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Die Kraft der kleinen Großen (Gut.Magazin 04/2010)

02.04.2010

Kunde: Deutscher Sparkassen- und Giroverband (DSGV)

Familienunternehmen schaffen die meisten Jobs in Deutschland, auf ihnen beruhen Wirtschaftskraft und funktionierende Gemeinden. Wie brüchig jedoch der Grund geworden ist, auf dem ihr Erfolg beruht, zeigt der Fall der Reinhold Mühleisen GmbH.

Von Tilman Wörtz (Text) und Uli Reinhardt (Fotos)

Es ist Dienstag und der Tag beginnt mit dem Anruf eines Automobilzulieferers: Ein Hybridmotor soll entstehen, doch die Entwicklung des Prototyps hängt: Ein drei Zentimeter kurzer Nippel muss in ein Alugehäuse getrieben werden, mit hoher Wucht und Präzision. Frage: „Kriegen Sie das bis nächsten Mittwoch hin?“ Markus Mühleisen nimmt an. Es geht nicht um viel Geld, aber um viel Beziehung zu einem wichtigen Kunden. „Zeitkritisch“ nennt er den Auftrag. Seine Mitarbeiter nennen ihn „arg sportlich“.

Es gibt die Welt, wie sie sein sollte, und die Welt wie sie ist. „Niederungen der Praxis“ nennt Markus Mühleisen die zweite Welt, zu der auch seine Werkstatt „Reinhold Mühleisen GmbH“ im schwäbischen Gerlingen mit ihren Fräs- und Drehmaschinen und 15 Mitarbeitern, inklusive Bruder, Mutter und Vater gehört. Kurz: die Welt des „Gefriemels und Gefutzels“.

Familienunternehmen

Markus Mühleisen beim Tüfteln. „Es ist schwierig, mit einem Genie zu leben“, sagt sein Bruder Oliver.

Zu den Metallteilen, die seine Werkstatt verlassen, gehören Düsen für Weltraumraketen, Halterungen für den Kernfusionsreaktor ITER oder winzige Teile eines Endoskops. Alles komplizierte, extrem genau gearbeitete Einzelstücke, meist für die Automobilindustrie, zunehmend auch für die Raumfahrt.

Schon als Kind hat Markus Mühleisen als Berufswunsch „Erfinder“ angegeben. Es fällt leicht, ihn als ingeniösen Tüftler zu erkennen: die schmale Brille auf der Nasenspitze, Locken, die sich senkrecht um die Stirnplatte gruppieren, als habe er gerade in eine Steckdose gefasst. Er verwendet putzige Ausdrücke und eilt mit unglaublich großen Schritten vom Konstruktionsbüro zu den Maschinen, von dort zur Qualitätsmessung und wieder zurück. Eh’ man’s merkt, dass er weg ist, ist er schon wieder da.

Zu seinen Erfindungen gehören alle möglichen Metallteile, aber auch ein Computerprogramm, das jeden Schritt der Produktion dokumentiert. Diese Kontrolle verlangen viele Auftraggeber heute selbst von kleinen Firmen. Die Software von SAP war Mühleisen zu teuer, also entwickelte er ein eigenes Programm. Das würde er auch sofort vermarkten – wenn er denn mehr Zeit hätte.

„Es ist schwierig, mit einem Genie zu leben“, sagt Bruder Oliver, Miteigentümer der Firma und verantwortlich für die Finanzen. Er geht gemessenen Schritts durch den Betrieb und hat kürzere Haare, sonst aber ähnelt er seinem Bruder. Ab und zu muss er seinem Bruder den Kauf einer Maschine versagen – denn brauchen könnte der ständig neue, doch die Investitionen kommen nicht immer den Ideen hinterher. Tatsache ist, dass die Reinhold Mühleisen GmbH einen guten Ruf genießt und europaweite Ausschreibungen gewinnt. Dabei hängt der Erfolg des Familienbetriebs auch von anderen Faktoren ab: von Firmen im direkten Umfeld, von Kreditinstituten, Universitäten, den Bindungen der Mitarbeiter an ihren Ort über das aktive Vereinsleben bis hin zur guten Infrastruktur. Ohne diese Verbindungen hätten selbst Markus und Oliver Mühleisen keine Chance.

Zu den lebenswichtigen Verbindungen gehört auch der Autokonzern, dem er den Nippel durchs Gehäuse treiben soll. Rasch muss eine pneumatische Presse her, aus einem Städtchen im Schwarzwald, das als Faschingshochburg bekannt ist – und Fasching fällt ausgerechnet in diese Woche. Dreidimensionale Zeichnungen müssen entworfen und mit dem Auftraggeber abgestimmt werden, um anschließend die Aufsätze für die Presse zu produzieren und zu montieren – eigentlich ein Prozess in drei Schritten. Doch wegen des Zeitdrucks werden alle parallel stattfinden müssen.

Vater Mühleisen, 75, nie ohne Krawatte, steigt schon mal im Materiallager eine Leiter hoch und sortiert die benötigten Werkzeuge. Frank Seiter, 40, Facharbeiter für Metallverarbeitung, richtet seine Maschinen ein. Er ist bei Mühleisen in die Lehre gegangen, „weil da der Weg von zu Hause nicht so weit war“, hat sich später vom höheren Lohn bei einem Hersteller für Rennmotoren locken lassen, ist schließlich aber wieder zurück gekehrt: „Weil ich hier täglich vor neuen Aufgaben stehe, das ist mir mehr wert als das liebe Geld.“

Markus Mühleisen kümmert sich um alles gleichzeitig, schiebt die Produktion an, wird allerdings kurz darauf von einem kreischenden Geräusche abgelenkt. Beim Bohren eines millimeterdünnen Lochs in einen Titanzylinder ist einem Mitarbeiter die Spitze des Bohrers abgebrochen und stecken geblieben. Auch dieser Auftrag ist „zeitkritisch.“ Also jagt Markus Mühleisen sofort im VW-Bus in einen Nachbarort, wo ein Spezialist die Spitze aus dem Titanzylinder lösen kann, „erodieren“ genannt. Wäre der Erodierer nicht so nah und müsste ein Kurier das Stück anliefern und wiederabholen – der Zeitverlust brächte den Auftrag in Gefahr.

Der Chef nutzt die Tour für weitere Besuche: Bei einer Metall-Härterei in Zuffenhausen, einem Spezialisten für Oberflächenbearbeitung in Feuerbach und einem Werkzeugmacher in Weilimdorf. Alles Städtchen, zwischen denen Äcker, Schrebergärten und Streuobstwiesen liegen, und die trotzdem über mindestens ein Industriegebiet mit einem Dutzend Firmen verfügen. Den „Speckgürtel um Stuttgart“ nennt er diese industrielle Infrastruktur, die ihm seine hoch spezialisierte Produktion überhaupt erst ermöglicht: Was nicht in der eigenen Firma an Expertise und Maschinen zur Verfügung steht, holt er sich in diesem Umfeld dazu.

Ökonomen sagen „Cluster“ zu solchen Ballungen und sehen darin in vielen Regionen Deutschlands eine einzigartige Infrastruktur für den Mittelstand. In Stuttgart sind es die Zulieferer, die um die Werke von Daimler, Porsche und Bosch herum entstanden sind. In Jena übernimmt die Feinmechanik- und Optik-Industrie diese Funktion, in Freiburg die Solartechnologie. Gerade in größeren Ballungszentren verweben sich natürlich viele Branchen ineinander.

Oft dient Markus Mühleisen als Zulieferer für eine Firma, die beim nächsten Auftrag Zulieferer für Mühleisen ist. Spritzguss gegen Drehbearbeitung. Drehbearbeitung gegen Spritzguss. Ein dichtes Netz gegenseitiger Abhängigkeiten, die unter hohem Zeit- und Kostendruck arbeiten. Flexibler, als das große Firmen können. Jede Firma mit ihrem hoch spezialisierten Nischenprodukt, das eine enge und vertrauensvolle Absprache mit dem Kunden braucht.

Die meisten arbeiten für die Entwicklungsabteilungen der Autohersteller. Gehen die Teile in Serie, übernehmen Fabriken in Rumänien oder China die Produktion. Für eine Firma wie Mühleisen sind diese Länder noch nie eine Konkurrenz gewesen. „Für die Einzelfertigung sind die Anbieter dort zu unflexibel. Und wir sind für Massenproduktion schon lange zu teuer.“

Während Markus Mühleisen seine Tour fährt, brütet Bruder Oliver mit Mutter Gisela im Büro neben der Fabrik über Zahlen und Abrechnungen. „Das vergangene Jahr war das schwierigste in der Geschichte unserer Firma, wir wussten manchmal nicht, wie es weitergehen sollte“, klagt Oliver Mühleisen. Firmen wie Bosch und Daimler machten Milliardenverluste. Wichtige Aufträge für Mühleisen blieben aus. Ein 300.000 Euro schwerer Auftrag dagegen konnte nicht angenommen werden, weil die Banken den Kredit in Vorgesprächen als „nahezu nicht genehmigungsfähig“ einstuften – schon gar nicht in der knappen Zeitspanne, in der dem Auftraggeber eine Zusage hätte gemacht werden müssen.

Die Erneuerung des Maschinenparks müssen die Mühleisens bis auf weiteres aufschieben. Entlassungen gibt es allerdings nicht, das wäre kurzsichtig: „Weil so spezialisierte Mitarbeiter wie unsere Leute auf dem normalen Arbeitsmarkt gar nicht mehr zu bekommen wären“, sagt Oliver Mühleisen. Im Falle einer Erholung der Auftragslage könnte der Betrieb dann nicht mitziehen. Schlechte Nachrichten kennt Mühleisen von vielen Firmen aus den umliegenden Industriegebieten. Einige haben schon dicht gemacht. Das Netzwerk, das den Mittelstand trägt, wird immer löchriger. „Das ist so, wie wenn im Gehirn zu viele Synapsen absterben: Irgendwann sind wir dement. Irreparabel. Spätestens dann geht´s auch den Großen an den Kragen.“

Die Malaise beschreibt Oliver Mühleisen in seiner Freizeit in Artikeln für den Gerlinger Anzeiger und diskutiert sie am Abend auf einer Sitzung des Ortsverbands seiner Partei im Weinkeller des „Bistro Alt-Gerlingen“. Der liegt in einem Denkmal geschützten Haus am Rathausplatz. Marmorintarsien und Springbrunnen auf dem Platz signalisieren Wohlstand. Die Stadt bietet ihren Bürgern eine gut sortierte Bücherei, ein Schwimmbad, eine Musikschule, Spielplätze und Mittagessen in den Schulen.

Dieser öffentliche Wohlstand ist zu einem guten Teil der Gewerbesteuer der fünfhundert ansässigen Unternehmen zu verdanken. Doch selbst in Gerlingens Haushalt klafft seit einem Jahr ein Loch, das größer wird. Schwimmbad schließen? Vereinen nicht mehr kostenlos Hallen und Säle im Rathaus überlassen? Zu Oliver Mühleisens Verdruss hat der Gemeinderat „statt zu sparen, die Gewerbesteuer deutlich erhöht!“.

Schon zwei Tage später hat er Gelegenheit, seine Gedanken an höhere Stelle zu adressieren: Peter Hauk, neuer Fraktionsvorsitzender im Landtag, will erkunden, wie’s um den Mittelstand in Baden-Württemberg bestellt ist und hat sich für einen Fabrikbesuch „absichtlich keinen Champion“ ausgesucht. Die Delegation im feinen Zwirn versammelt sich im Besprechungszimmer. Markus Mühleisen – „der Bruder ohne Krawatte“ – stellt die Produkte seiner Firma vor. Und geht dann zur Gretchenfrage der Finanzierung über:

„Wir würden uns mehr politische Unterstützung in Form von staatlichen Bürgschaften wünschen, um an Kredite zu kommen.“ „Aber es gibt doch die staatliche Bürgschaftsbank …“

„… die monatelang für die Prüfung eines Kreditantrags braucht. Unsere Auftraggeber verlangen von uns Antworten innerhalb von zwei oder drei Wochen!“

Es ist ein wenig der Gegensatz zwischen der Welt des „Gefriemels und Gefutzels“ und der Welt, wie sie sein sollte, aber nicht ist. Die Lücke dazwischen kann Mittelständlern wie Mühleisen den Kragen kosten. „Die Botschaft kam an“, sagt Delegationsleiter Peter Hauk am Ende und verspricht, das Thema im Auge zu behalten.

Am Mittwochabend dann die Probe aufs Exempel: Die pneumatische Presse kommt trotz des Rosenmontags rechtzeitig an, die Konstruktionszeichnungen sind gemacht. Im Laufe des Tages müssen die Halterungen für die Montage gefertigt werden und schließlich der Nippel mindestens einmal erfolgreich in das Alugehäuse gepresst werden. Markus Mühleisen eilt mit großen Schritten umher, verkabelt die Presse, prüft die Fräsmaschinen. Einzelne Teile passen nicht genau, sie müssen nachgeschliffen werden. Die Operation zieht sich in die Länge. „Jetzt gilt die Boxer-Regel,“ sagt Markus Mühleisen, „hinfallen darf man, nur liegen bleiben nicht!“ Er ist noch guter Dinge, trotz des Zeitdrucks. Von Vater Mühleisen wird Kaffee gereicht. Er hält sich mit Kommentaren zurück: „Ich will meinem Sohn nicht reinreden.“ Sein Vater hat das bei ihm versucht. „Das ging nicht gut“. Gegen Mitternacht ist das gute Stück so weit. Die Presse zischt, der Nippel passt. „S´geht“, sagt Markus Mühleisen lapidar.

Am nächsten Tag ruft der Kunde an und bedankt sich für die schnelle Arbeit. Die Entwicklung des Hybridautos kann weitergehen. Und Mühleisen bekommt einen Folgeauftrag.

Dieser Text ist im Gut.Magazin / April 2010 erschienen, dem Magazin der Sparkassen-Finanzgruppe.